Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass mehrere Vorschriften des Gesetzes über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in Mecklenburg-Vorpommern (Sicherheits- und Ordnungsgesetz – SOG MV) mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Einige der darin geregelten polizeilichen Ermittlungsbefugnisse verletzen in ihrer konkreten Ausgestaltung die Grundrechte der Beschwerdeführenden, namentlich das allgemeine Persönlichkeitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Schutz der informationellen Selbstbestimmung, teils auch in seiner Ausprägung als Schutz der Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme, das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 Abs. 1 GG) sowie die Unverletzlichkeit der Wohnung (Art. 13 Abs. 1 GG).
Die angegriffenen Vorschriften sind vor allem deshalb zum Teil verfassungswidrig, weil sie den in ständiger Rechtsprechung konkretisierten Anforderungen der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne an heimliche Überwachungsmaßnahmen der Polizei nicht vollständig genügen. Verfassungsrechtlich unzureichend sind sie auch mit Blick auf den erstmals näher konturierten Kernbereichsschutz beim gefahrenabwehrrechtlichen Einsatz von Vertrauenspersonen und verdeckt Ermittelnden sowie die verfassungsrechtlichen Voraussetzungen der heimlichen Wohnungsbetretung durch die Polizei zur Vorbereitung einer Online-Durchsuchung oder einer Quellen-Telekommunikationsüberwachung. Ein Teil der verfassungswidrigen Vorschriften wird nicht für nichtig, sondern lediglich für mit der Verfassung unvereinbar erklärt – verbunden mit der Anordnung ihrer befristeten Fortgeltung. Denn die Gründe für die Verfassungswidrigkeit dieser Vorschriften betreffen nicht den Kern der mit ihnen eingeräumten Befugnisse, sondern einzelne Aspekte ihrer rechtsstaatlichen Ausgestaltung, die der Gesetzgeber nachbessern und so den Kern der mit den Vorschriften verfolgten Ziele auf verfassungsmäßige Weise verwirklichen kann.
1. § 33 Abs. 2 SOG MV (Besondere Mittel der Datenerhebung) ist in Satz 1 und Satz 3, soweit dieser auf § 67c Halbsatz 1 Nr. 1 SOG MV verweist, verfassungswidrig, weil die Eingriffsvoraussetzungen hinter einer konkretisierten Gefahr zurückbleiben. Die in § 33 Abs. 2 SOG MV enthaltenen Verweisungen verstoßen hingegen nicht gegen das Gebot der Normenklarheit. Der Kernbereichsschutz nach § 26a Abs. 3 Satz 1 Halbsatz 2 SOG MV, der für den Einsatz von Vertrauenspersonen oder verdeckt Ermittelnden nach § 33 Abs. 2 in Verbindung mit Abs. 1 Nr. 3 und 4 SOG MV eine Ausnahme von der Abbruchpflicht bei Eindringen in den Kernbereich privater Lebensgestaltung regelt, genügt in seiner konkreten Ausgestaltung nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen.
2. § 33b Abs. 1 Satz 2 SOG MV (Wohnraumüberwachung) ist verfassungswidrig, weil die Eingriffsschwelle nicht dem Erfordernis einer dringenden Gefahr aus Art. 13 Abs. 4 GG genügt.
3. § 33c Abs. 1 Satz 2 SOG MV (Online-Durchsuchung) ist verfassungswidrig, soweit danach in Verbindung mit § 67a Abs. 1 und § 67c Halbsatz 1 Nr. 1 SOG MV die konkretisierte Gefahr der Begehung einer Vorfeldtat für die Durchführung einer Online-Durchsuchung genügen kann. In ihrer konkreten Ausgestaltung genügt auch die Ermächtigung in § 33c Abs. 5 Alternative 2 SOG MV (Heimliche Wohnungsbetretung und -durchsuchung) nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen, weil nicht hinreichend bestimmt geregelt ist, dass dies der Abwehr einer konkretisierten Gefahr dienen muss.
4. § 33d Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 SOG MV in Verbindung mit § 67a Abs. 1 und § 67c Halbsatz 1 Nr. 1 SOG MV (Telekommunikationsüberwachung) und § 33d Abs. 3 Satz 3 in Verbindung mit § 33c Abs. 5 Alternative 2 SOG MV (Heimliche Wohnungsbetretung und -durchsuchung) sind aus denselben Gründen verfassungswidrig wie die entsprechenden Regeln zur Online-Durchsuchung.
5. § 35 Abs. 1 SOG MV (Ausschreibung zur polizeilichen Beobachtung) ist mangels Gesetzgebungskompetenz des Landesgesetzgebers formell verfassungswidrig, soweit § 35 Abs. 1 Satz 1 Alternative 2 in Verbindung mit § 7 Abs. 1 Nr. 4 SOG MV die Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten umfasst. § 35 Abs. 1 Satz 1 SOG MV ist auch materiell verfassungswidrig, weil keine den verfassungsrechtlichen Anforderungen entsprechende Kombination von Eingriffsschwelle und zu schützendem Rechtsgut vorausgesetzt wird. Das gilt auch für § 35 Abs. 1 Satz 2 in Verbindung mit § 67a Abs. 1 SOG MV, soweit § 67a Abs. 1 SOG MV auf § 67c Halbsatz 1 Nr. 1 SOG MV verweist.
6. § 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SOG MV (Rasterfahndung) ist verfassungswidrig, weil die Vorschrift keine konkrete Gefahr voraussetzt und nicht den Anforderungen des Gebots der Normenklarheit genügt.
§ 33 Abs. 2 Satz 3, § 33c Abs. 1 Satz 2, § 33d Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 und § 35 Abs. 1 Satz 2 jeweils in Verbindung mit § 67a Abs. 1, soweit darin auf § 67c Halbsatz 1 Nr. 1 verwiesen wird, sowie § 33b Abs. 1 Satz 2 und § 35 Abs. 1 Satz 1, soweit er die Vorsorge für die Verfolgung künftiger Straftaten umfasst, und § 44 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 SOG MV sind nichtig. Im Übrigen sind die beanstandeten Vorschriften mit dem Grundgesetz unvereinbar und gelten vorübergehend – mit Blick auf die betroffenen Grundrechte jedoch nach einschränkenden Maßgaben – bis zum Ablauf des 31. Dezember 2023 fort.
Sachverhalt:
Am 5. Juni 2020 traten Neuregelungen verschiedener Ermittlungsbefugnisse der Ordnungs- und Polizeibehörden des Landes Mecklenburg-Vorpommern im SOG MV in Kraft. Die Beschwerdeführenden, eine für als terroristisch oder extremistisch eingestufte Personen tätige Rechtsanwältin, ein in den Bereichen politischer Extremismus und Migration tätiger Journalist, eine Klima- und Umwelt-Aktivistin, ein in einer Gemeinschaftsunterkunft für Asylsuchende tätiger Sozialarbeiter mit Kontakten in die Fußball-Fan-Szene und eine weitere Person aus der Fußball-Fan-Szene, wenden sich gegen mehrere dieser Ermittlungsbefugnisse, beanstanden aber überwiegend nur Teile der Vorschriften.